Die Welt der Energie war einfach als ich aufwuchs im Deutschland der 70er Jahre: Grundlaststrom von Atom- und Kohlekraftwerken, dazu Gaskraftwerke für die Flexibilität, Mobilität mit Benzin und Diesel, Wärme aus Heizöl und Gas. Das ergab dann über 10 Tonnen CO2 pro Einwohner und Jahr. Die zukünftige Netto-Null Welt wird eine andere sein: bunt, divers und komplizierter.

Die Schweiz hat die besten Voraussetzungen, vor allem dank ihrer Topographie, die es uns erlaubt, mehr als die Hälfte des Stroms aus der Wasserkraft zu gewinnen. Auch bei den Wärmepumpen sind wir schon sehr weit. Die Elektromobilität ist auf dem Vormarsch und in unserem Land der kurzen Wege ist Reichweitenangst kein Thema.

Jetzt kommt die Herausforderung: Der Stromverbrauch wird trotz Effizienzgewinnen durch die Sektorkopplung – also die Elektrifizierung von Wärme und Mobilität – steigen, wahrscheinlich um mehr als ein Drittel. Wie stellen wir diesen zu jeder Stunde und in jeder Jahreszeit sicher?

Das Energiesystem als Netzwerk

Dazu muss man das Energiesystem als Netzwerk begreifen, das alle Energieformen (elektrisch, chemisch, thermisch) mit einander verbindet. Es gibt Umwandlungen, z.B. von Strom in Wärme in einer Wärmepumpe, oder Speicher wie Batterien. Was es nicht gibt ist die eine dominante Technologie, die alle unsere Probleme löst. Es ist eher ein Organismus mit einer Vielzahl von Komponenten, die jede ihren Beitrag zum Gedeihen des Ganzen leistet.

Zwei Beispiele sollen das erläutern. Das erste ist der Mythos vom flatterhaften «Überschussstrom» im Sommer. Tatsächlich werden wir so viel Photovoltaik haben, dass an einem sonnigen Tag um die Mittagszeit mehr erzeugt, als in diesem Moment verbraucht wird. Aber es gibt Elemente in diesem neuen «Energie-Organismus», die diesen Überschuss nutzbringend verwerten, vor allem flexible Batteriefahrzeuge, Wärmepumpen und industrielle Stromheizungen mit Wärmespeichern. Was dann noch übrig bleibt, kann in Batterien oder Pumpspeicherkraftwerken gespeichert und in der Nacht zur Verfügung gestellt werden.

Das zweite Beispiel ist der jahreszeitliche Ausgleich von Energieangebot und -verbrauch. Hier ist es tatsächlich so, dass der Strombedarf in den Wintermonaten die Erzeugung aus Wasserkraft und Photovoltaik im Flachland übersteigt. Diese geisterhafte «Winterlücke» kann jedoch geschlossen werden, wieder durch das Zusammenspiel vieler Komponenten des «Energie-Organismus». Zunächst einmal ist der Winterstrombedarf keine feste Grösse, er wird stark getrieben durch die Wärmepumpen. Jede Effizienzmassnahme und jede alternative Energiequelle (Kehricht/Holz/Gas-Wärmekraftwerke, Geothermie, Solarthermie) können diesen reduzieren. Auch grosse Wärmespeicher könne helfen, sie erlauben, eine Grosswärmepumpe auch im Sommer laufen zu lassen, was genau den Winterstrombedarf reduziert.

Auf der Erzeugungsseite ist vor allem die Wasserkraft zu nennen. Eine Erhöhung der Staumauern vergrössert das Speichervolumen und damit die Winterstromerzeugung. Auch alpine Photovoltaik und Windkraft liefern vor allem im Winter Strom. Holz sollte für die Erzeugung von hoch-Temperatur Prozesswärme in der Industrie eingesetzt werden – oder eben für die Stromerzeugung im Winter. Gülle, Grünabfälle und Klärschlämme müssen konsequent in Biogas umgewandelt werden, was gespeichert und im Winter verstromt werden kann.

Die Schweiz liegt mitten in Europa!

Das entscheidende Element ist aber die Vernetzung mit Europa. Diese erlaubt uns, am Stromhandel teilzunehmen und damit auch in den Wintermonaten netto zu importieren. Auch an ein zukünftiges Wasserstoffnetz muss die Schweiz angeschlossen werden.

Eine letzte Komponente des «Energie-Organismus» ist die Abscheidung von CO2 an grossen Punktquellen und die dauerhafte unterirdische Lagerung. Wir brauchen diese Carbon Capture & Storage (CCS) Technologie, um das Netto-Null Ziel tatsächlich zu erreichen: einerseits für unvermeidbare Emissionen wie von Zementwerken, andererseits um negative Emissionen zu erzeugen, die dann die Emissionen der Landwirtschaft kompensieren können. Auch CCS kann die Schweiz nicht alleine realisieren, es braucht eine enge Zusammenarbeit mit Europa.

Dr. Gianfranco Guidati ist
Stellvertretender Direktor des Energy Science Center der ETH Zürich und Experte für Energiesystemmodellierung. esc.ethz.ch